Die Linde von Obermarbach

Viele rätseln, warum ein Baum eine solche Gestalt annimmt.
Die turbulente Geschichte eines Baumes.

Um das Jahr 1600 keimt eine Linde am Rand einer Böschung. Dort steht nördlich des Kirchbergs in Obermarbach bei Petershausen im heutigen Landkreis Dachau ein Gehölz. Ein seit Jahrhunderten begangener Weg führt zwischen Linde und Kirche auf die Felder hinauf. Auf einer Flurkarte ist er erst 1856 verzeichnet, da aber bereits als beidseitig von einer Böschung begrenzter Weg (Abb. 1).  

Die Böden sind fruchtbar. Die kiesführenden schluffig-sandigen Lehme sind mit Löss bedeckt. Damit ist der Boden steinfrei und leicht zu bearbeiten, nährstoffreich, überschüssiges Wasser zieht gut ab, die Speicherkapazität für pflanzenverfügbares Wasser ist hoch, der Standort ist für alle Feldfrüchte gut geeignet. Da die fruchtbareren Flächen in einem Gebiet zuerst gerodet wurden, sind auch die Flächen oberhalb Obermarbach landwirtschaftlich genutzt.

Allerdings ist dieser Boden sehr erosionsanfällig.

Im Alter von etwa 5 Jahren wird die Linde vom Wild oder auch von dem auf die Weide und in das benachbarte Gehölz getriebenen Vieh verbissen. Sie wächst ohne zentrale Stammachse mit mehreren Haupttrieben zwieselwüchsig weiter.

Abb. 1: Obermarbach in der Flurkarte von 1856, roter Punkt = Standort der Linde wurde eingefügt (76)
Abb. 2: Wasseraustrittsstellen und jung freigespülte Wurzeln


Um 1700 neigt sich die 100-jährige Linde immer mehr dem Hohlweg zu, so, wie es heute mit dem Baum in Abb. 3 geschieht.

Bereits seit ihren Anfängen sieht die Linde bis etwa zur Mitte des 18. Jahrhunderts jährlich mehrere Tausend ungarische Grauochsen mit ihren großen Hörnern den Hohlweg hinunter drängen.

Im Dreißigjährigen Kriegs sieht die knapp 50-jährige Linde die Kriegshorden vorbeiziehen. Im letzten Jahr dieser langjährigen Auseinandersetzung (1648) steht das ihr gegenüberliegende Pfarrhaus samt Stadel in Flammen (125). Die drei Hauptstämme der Linde haben einen Durchmesser von jeweils rund 25 cm.

Die Situation zwischen dem Ort und den oberhalb liegenden fruchtbaren Feldern, aber auch die seit langem begangene Wegtrasse legen nahe, dass das steile Wegstück bei der Linde häufig genutzt und deshalb bereits damals ausgeschwemmt und eingetieft war. Da die Böden ringsum nicht nur sehr erosionsanfällig, sondern auch wasserdurchlässig sind, tritt das oben versickernde Wasser weiter unten in der Böschung wieder aus.

Die Linde muss zusehen, wie ihr der Boden unter den Füßen abhandenkommt. Das Wasser unterspült die Böschung und trägt sie ab. Der Baum versucht, durch verstärktes Wurzelwachstum seine Position zu bewahren. Dieser Vorgang findet an der Böschung bis heute immer wieder statt: in Abb. 2 sind Öffnungen in der Böschung zu sehen, aus denen bei Starkregen Wasser heraussprudelt, oberhalb wurden Wurzeln von wenige Jahre alten Bäumen freigelegt, die vor kurzer Zeit noch im Boden gewachsen sein müssen. Dies belegt, wie rasant der Bodenabtrag hier heute noch verläuft. 

Abb. 3: durch Bodenerosion freigelegte Wurzeln eines Baums, der an der Böschungskante steht
Abb. 4: Verlauf des Oxenwegs im Bereich von Obermarbach (127)

Über mehrere Jahrhunderte führt nämlich ein Teil des altbairischen „Oxenwegs“ von Ungarn kommend über Freising, Allershausen, Hohenkammer und Obermarbach nach Augsburg an dieser Linde vorbei (Abb. 4).

Die Tiere werden zur Deckung des hohen Fleischbedarfs über Strecken von bis zu tausend Kilometern getrieben. Die meist 100 bis 200 Stück Vieh zählenden Herden ziehen in wochenlangen Märschen zu ihren Metzgern. Eine Flurbezeichnung im Gebiet zwischen Mitter- und Obermarbach trägt um 1800 noch die Bezeichnung "Ochsengasse". (126)

Ist es trocken, zieht eine Staubwolke hinter der Herde her, hat es geregnet, wird der Boden schnell morastig. In jedem Fall wird das Bodengefüge des Wegs gestört und der Boden damit noch anfälliger für Abtrag. 

Nicht nur dieser langjährige Viehtrieb, sondern auch die inzwischen fortschreitende Mechanisierung und der Wegfall der Brachewirtschaft belasten den unbefestigten Weg zusätzlich.

Mit jedem Regenguss sammelt sich das Wasser in den Fahrspuren und fließt über den sich dabei vertiefenden und verbreiternden Hohlweg ab.

Die drei Stämme der inzwischen 200 Jahre alten Linde messen inzwischen jeweils etwa 80 cm im Durchmesser. Die Böschung, an deren oberer Rand die Linde einst stand, ist durch Erosion soweit zurückgewichen, dass der Wurzelstock der Linde weitgehend freigelegt ist und der Baum sich immer mehr zum Hohlweg hinneigt. Die Linde kippt immer mehr zur Seite und versucht durch verstärktes Wurzelwachstum diesem Prozess entgegenzusteuern.

Etwa in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Gleichgewicht des Baums soweit gestört, dass zwei seiner Stämme unter ihrem eigenen Gewicht ausreißen und in den Hohlweg fallen. Die jüngere Nachbarlinde in Abb. 5 hat auch ihren Zweitstamm verloren und sieht heute einem vergleichbaren Schicksal entgegen. 

Die Statik der alten Linde zwingt den verbliebenen Stamm zwar zunächst in die Gegenrichtung, die anhaltende Hangrutschung gleicht dies aber zusehends aus, bis die Seitenwurzeln wie Spannseile gerade gezogen sind und ihm Halt geben. Der Baum hat damit wieder ein Gleichgewicht gefunden und steckt nun weiter einen Großteil seiner Wuchskraft in die Bildung von eng nebeneinander, nahezu senkrecht verlaufenden Wurzeln, die dem Stamm auch bei immer weniger Boden Halt geben können (Abb. 6, 7, 8).

Diese Entwicklung vollzieht sich über viele Jahrzehnte. Heute steht der Baum wie auf 4 m hohen Säulen oder Stelzen.

Abb. 5: die Nachbarlinde sieht einer vergleichbaren Entwicklung entgegen wie ihre große Schwester
Abb. 6 - 8: stramm gezogene Seitenwurzeln halten den Baum wie Spannseile von mehreren Seiten, nahezu senkrecht gewachsene Wurzeln ersetzen den früher haltgebenden Boden und halten den Stamm, von Südwesten gesehen
Abb. 9: laufender Bodenabtrag in der Böschung bei der Linde

Die Dynamik in diesem Hohlweg hat aber noch kein Ende gefunden. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird im nordöstlichen Bereich des Hohlwegs Sand abgebaut. Damit wird die über den Hohlweg zu entwässernde Fläche vergrößert, es fällt mehr Oberflächenwasser an.

In der zweiten Hälfte wird im Zuge der Flurbereinigung der Weg verbreitert und befestigt. Der Vertiefungsprozess im Hohlweg wird damit zwar gestoppt, nicht aber die Verbreiterung. Wie in vielen Hohlwegen ist das anfallende Oberflächenwasser ein Problem, das man hier mit dem Austausch der am Rand zunächst verlegten L-Steine durch normale Pflastersteine zu entschärfen versucht. Damit wird aber der Wasserfluss wieder an den Böschungsfuß verlagert und der nachrutschende Boden dort bei jedem Niederschlag fortgespült.

Die Pflastersteine am Wegrand sind bis heute zum Teil mit abgerutschtem Erdreich bedeckt, das beim nächsten Regen abgetragen wird (Abb. 9). 

Abb. 10: die Entwicklung der Linde von Obermarbach, schematisch

Abb. 10 zeigt schematisch die Entwicklung des Baums vom Keimling bis heute. Es ist zu berücksichtigen, dass die Fläche oberhalb des Baumes nach Westen, also zum Betrachter hin, geneigt ist und im Lauf der Jahrhunderte ebenfalls durch Bodenabtrag etwas an Höhe verloren hat.

Die Linde heute

Abb. 11 - 15: die Linde bei Obermarbach heute

Wie die Linde heute aussieht wird in den Abb. 11 - 15 dokumentiert. Abb. 16 zeigt das beim Baum installierte Hinweisschild.

Heute ist diese Linde eine Berühmtheit. Wer "Alte Linde Obermarbach" googelt, bekommt über 90 Ergebnisse, die sich fast alle mit dieser Linde befassen. Sie erscheint u. a. bei Wikipedia, Baumkunde, Monumentale Bäume, Baum-Entdecker, in topografischen Karten, Googlemaps, Openstreetmap, Wanderkarten, in Zeitungsbeiträgen und in Internet-Biologieseiten.

Fast alle Beiträge nennen einen Stammumfang von über 10 m. Bei den meisten Quellen sind dies 10,2 m im Jahr 1994. Damit beziehen sie sich vermutlich auf die Veröffentlichung von Stefan Kühn u. a. Deutschlands alte Bäume, wo einer weiteren Quelle zufolge die Messhöhe von 1 m über dem Hangniveau genannt wird. Diese Messung müsste ungefähr entlang der Linie A in Abb. 17 durchgeführt worden sein, allerdings vor 30 Jahren. 

Abb. 16: Hinweisschild bei der Obermarbacher Linde (zum Vergrößern klicken)

Abb. 17: Maße

Eine andere Quelle nennt 7,84 m, was sich vermutlich etwa auf die Linie B bezieht. Als Altersangabe findet man 300 - 400, 350 - 400, 330 - 430, 500 oder 600 (Untere Naturschutzbehörde am Landratsamt Dachau) Jahre.

Auch über die Lindenart besteht keine Einigkeit.  

Dieser Baum entzieht sich weitgehend den theoretischen Vorgaben zur Messung des Stammumfangs. Man wird für alle bisher ermittelten Maße eine Begründung finden. Nach den in dieser Website genannten Grundsätzen ist der Stammumfang in der Taille zwischen Stammbasis und 1,30 m Höhe senkrecht zum Stamm zu messen. Die Stammbasis liegt zwischen den oberen Seitenwurzeln und dem unteren Ansatz der verloren gegangenen Stämme (etwa Linie B in Abb. 17). Das Maßband wäre demnach in der Kehle der früheren Stammverzweigung anzulegen, die sich im Mittel ca. 1,30 m über der Stammbasis befindet (etwa Linie C). 

Die Altersschätzung ist bei Linden ohnehin schwierig, da sie sich mehr als andere Baumarten an äußere Umstände anpassen können. 

Der Stammumfang ist ein schwächeres Alters-Indiz als bei "normal" gewachsenen Bäumen. Mehrstämmigkeit, erlittene Verletzungen, schwierige Standortbedingungen, die im Wurzelwachstum gebundene Wuchskraft, aber auch der fruchtbare Boden müssen berücksichtigt werden.

Meine Baumbeschreibung

  • Winterlinde bei Obermarbach
  • in der Hohlwegböschung am nordöstlichen Ortsrand
  • einstämmig, ursprünglich mehrstämmig
  • Stammumfang ca. 7,3 m (BHU am verbliebenen Stamm)
  • Höhe ca. 22 m
  • Kronenbreite ca. 12 m
  • Alter: 400-450 Jahre
  • hohler Stamm, einige Äste wurden entfernt

Was für meine Geschichte spricht

  • Baumgestalt und Wurzelanordnung lassen kaum Spielraum für andere Erklärungen, der zeitliche Rahmen mag variieren.
  • Das ursprüngliche Niveau der angrenzenden Hochfläche liegt auf dem Niveau der von mir angenommenen, inzwischen geneigten Stammbasis.
  • Die geschilderten Entwicklungsstadien können noch heute in diesem Hohlweg beobachtet werden (Abb. 2, 3, 5).
  • Bodenerosion ist ein langsames und stetiges und deshalb oft unterschätztes Geschehen. In 400 Jahren können an erosionsexponierten Stellen gewaltige Bodenmengen verlagert werden. 

Die geschilderte Entwicklung der Obermarbacher Linde bleibt von ihrem tatsächlichen Alter unberührt, allenfalls ändert sich der zeitliche Verlauf. 

Man möge mir nachsehen, dass ich den Baum zur Vermessung nicht bestiegen, sondern die verschiedenen Maße zur Straßenbreite ins Verhältnis gesetzt habe. Insofern sind die Maße nur ungefähre Angaben.

von Rudolf Rippel